Die digitale Unwissenheit
Wie Blinde uns Kennzahlen zeigen
von Michael Pauen, Dezember 2021
Gestern gegen Mitternacht, meine WELT App benachrichtigt mich über einen neuen Artikel: Pandemie der Unwissenheit?
Ein wirklich lesenswerter Artikel, wenngleich er mich verzweifeln lässt. Es zeigt mir wieder einmal, mit welcher Ignoranz gegenüber wissenschaftlicher Evidenz uns der bürokratische Apparat unseres Heimatlandes versucht durch die Pandemie zu steuern.
Ich lese davon, dass (endlich) beschlossen und verordnet wurde, dass der Verband DIVI künftig zur Zahl der Patienten auf Intensivstationen auch deren Alter und den Impfstatus mitzuteilen hat, tagesaktuell. Man sollte meinen, das wäre selbstverständlich. Es passiert aber nicht, nach wie vor ist für die Mehrheit der Infizierten, der Hospitalisierten wie der Intensivpatienten nicht bekannt, ob sie geimpft oder schon einmal genesen sind.
Das Robert-Koch-Institut gibt sich als sehend aus.
Wir sind blind in dieser Pandemie. Die DIVI hat die geforderten Zahlen nicht, weil sie schlicht nicht geliefert werden. Trotzdem werden natürlich Zahlen vom RKI publiziert. Ich verweise auf den Artikel der Welt: obwohl ich in der Mehrzahl der Fälle keine Ahnung habe, schlage ich diese dem Zustand „nicht geimpft“ zu. Wie sollen wir auf der Basis solcher Unkenntnis denn vernüftige und nachhaltige Entscheidungen treffen?
Eine Software, mit der diese Zahlen geliefert werden können, hat die Divi offensichtlich noch gar nicht. Das RKI erklärt gegenüber Die WELT:
„Eine konkrete Frist zur Umsetzung der neuen Anforderungen (…) ist uns nicht bekannt.“ Der Prozess der Implementierung brauche „einige Zeit“. Einen genauen Zeitpunkt könne man nicht nennen.
Abgesehen davon müssten diese Zahlen zusätzlich vom Pflegepersonal der Kliniken, und hier explizit von der Besatzung der Intensivstationen, manuell übertragen werden. Ich habe in Krankenhäusern Bekannte die mir berichten, dass 2 Vollzeitkräfte – ausgebildetes Fachpersonal – die Datenmeldungen an die DIVI und andere Stellen durchführen. Diese beiden Stellen bedeuten auch 2 Intensivbetten, die nicht genutzt werden dürfen, weil das Personal fehlt.
Mit Vorsatz in die Unkenntnis
Wir haben im April 2020 unsere Automatisierung zum Intensivbettenmonitoring der DIVI und dem Bundesgesundheitsministerium vorgestellt. Wir erhielten keine qualifizierte Antwort. Bei Landesministerien in NRW stießen wir zwar auf Interesse, jedoch fehlte die Zeit, sich damit auseinanderzusetzen.
Auch heute, mehr als 19 Monate später, gibt es in der ganzen Meldekette von den Krankenhäusern, Gesundheitsämtern, Landesämtern und Bundesinstituten zuhauf manuelle Schnittstellen. Das verzögert im besten Fall die Meldungen der Zahlen, im Normalfall werden dabei aber auch Daten verloren gehen und – dafür sind mir Fälle bekannt – vorsätzlich manipuliert, Entschuldigung: korrigiert.
Handeln statt zaudern
Es ist an der Zeit, dieser Pandemie mit einer Systematik zu begegnen. Sorgen wir endlich dafür, dass wir Entscheidungen zu Eindämmungsmaßnahmen nicht mehr auf intuitiv richtig wirkende Vermutungen zu stützen, sondern auf valide Daten und Wissen!
Das erstaunlichste an diesem frustrierenden Zustand ist, dass am Anfang der Kette, auf der Intensivstation, das Wissen existiert – es geht auf dem Meldeweg verloren!
Wenn die DIVI nicht weiß, wie lange sie für die Umsetzung einer Datenlieferung benötigt, dann setzt sie auf die falsche Software oder den falschen Dienstleister oder beides. Wir wissen, dass wir innerhalb weniger Tage lieferfähig wären, weil eine an den dringlichsten Aufgaben ausgerichtete agile Vorgehensweise verinnerlicht haben.
Die Digitalisierung des Wissens ist überfällig. Wir stehen weiter bereit und bleiben am Ball, den Amtsträgern im Land und im Bund unsere Hilfe anzubieten. Es war schon immer ein Zeichen von Stärke, die eigene Unkenntnis zu erkennen und zu beheben.
EDIT vom 06.12.2021
Die WELT bleibt am Ball und berichtet über „Empörung über unbrauchbare Inzidenz-Erhebung in Bayern„, nachdem auch FOCUS Online den Bericht in der WELT im Prinzip bestätigt hatte, das verantwortliche Bayerische Landesamt jedoch seine Praxis dem Focus gegenüber verteidigte.
Es bleibt ein Geheimnis des LGL in Bayern, wie es zu dem Schluss kommen kann, dass das Ergebnis nicht verfälscht wird, ohne Daten nennen zu können, die die Praxis bestätigen. FOCUS:
Der LGL-Präsident Walter Jonas sagt dazu: „Dieser Vorwurf ist absolut abwegig. Wir haben uns entschieden, die Fälle ohne Angaben zum Impfstatus zunächst zu den Ungeimpften zu zählen. Denn es hat sich herausgestellt, dass diese – nach später vorliegenden Daten – in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle ungeimpft waren. Ein bloßes Weglassen der fehlenden Werte hätte zu völlig falschen Inzidenzverhältnissen geführt“.
Nach Recherchen der WELT in oben verlinktem Artikel ist jedoch das LGL gar nicht in der Lage, diese „später vorliegenden Daten“ genauer zu spezifizieren. Wo kommen diese her, und warum sind dann nicht bis zu einem bestimmten Punkt die Daten nachträglich korrigiert verfügbar?
EDIT vom 07.12.2021
Das RKI weißt die Inzidenz symptomatisch Erkrankter und die Hospitalisierungsinzidenz nach Status geimpft/ungeimpft aus, ohne die Fälle zu berücksichtigen, zu denen der Status unbekannt ist. Das scheint doch eine valide Herangehensweise zu sein, denn so wird sogar zu einem guten Teil der Einfluss von mehr durchgeführten Tests bei Ungeimpften ausgeglichen.
Dabei ist die Inzidenz grob um einen Faktor 3 höher für Ungeimpfte. Dieser Faktor klingt für mich weitaus plausibler, als die Faktoren aus Bayern. Mir wäre wohler, wir wüssten besser, wie viel und wie lange die Impfung schützt – und da kommen wir meiner Meinung nach nur hin, wenn wir Daten dazu sammeln.
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